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emerald

Reed Jackson war spät dran. Er sah auf seine teure Armbanduhr, die ihm eine verflossene Liebschaft vor Jahren einmal geschenkt hatte. Seine Erinnerungen an die Frau waren beinahe vollständig verblasst. Er wusste nur noch, dass sie deutlich älter gewesen war als er, unverschämt reich und ein begeisterter Fan seiner Arbeit. 

Da er bereits jetzt 15 Minuten zu spät war, trat er verärgert das Gaspedal seines Land Rover Defender durch und schoss mit 150 km/h über die A100, die früh am Morgen zum Glück noch recht leer war. Reed fuhr in Moabit von der Autobahn ab und bog mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf die Beusselstraße ein, die er entlangraste, bis er die Einfahrt des Berliner Großmarkts erreichte.  

Zwischen den verwinkelt stehenden Hallen fuhr er deutlich langsamer und vorsichtiger, denn hier war um vier Uhr morgens schon die Hölle los. Kastenwagen eilten umher wie weiße Käfer, während sich große 40-Tonner-LKWs wie riesige Schnecken durch das Gewimmel von gelb-schwarzen Gabelstaplern schoben.  

Reed stellte den Wagen verkehrswidrig neben Halle drei ab und ging eilig hinein. Es war, obwohl es bereits Mai war, um diese Uhrzeit immer noch empfindlich kalt, daher schlug Reed den Kragen seiner schwarzen Lederjacke hoch. Dank seiner Ray-Ban-Sonnenbrille blendeten ihn die hellen Neon-Lichter im Innern der Halle nicht allzu sehr.  

Die letzte Nacht war, wie die die sechs Nächte davor, äußerst kurz gewesen und er hatte wieder einmal nicht mehr als drei Stunden Schlaf bekommen.  

„Hey, Reed!“, grüßte ihn Izzet Sarfat, der türkische Gemüsehändler, der ihn seit Jahren mit exzellentem Obst und Gemüse belieferte.  

Reed winkte ihm zu und rief im Vorbeigehen: 

„Ich brauche ein Kilo Wildpilze, Izzet. Morcheln, Steinpilze und Pfifferling. Dann noch ein Kilo Wurzelgemüse, also Schwarzwurzeln und Nachtkerzen, wenn Du welche hast. Dazu ein Pfund Maronen, ein Kilo rote Drillinge, je 200 Gramm Heidel-, Brom- und Holunderbeeren und eine gute Handvoll Haselnüsse.” 

“Alles klar, kein Problem.” Izzet machte sich Notizen. “Ich mach’ Dir eine Kiste fertig. Noch was?” 

“Ich brauche frische Brennnesseln und sauberes Heu. Und ein paar Tannenzweige.” 

“Oh, da kann ich Dir nicht helfen. Frag mal bei den Neumanns drüben. Die müssten sowas dahaben.” 

“Danke Dir, Izzet! Ich hol‘ mir die Kiste gleich ab.” 

Reed kannte den Großmarkt in- und auswendig. Er war jetzt 32 Jahre alt und arbeitete ziemlich genau die Hälfte seines Lebens als Koch in Berlin. Genauso lange besuchte er schon den Großmarkt. Reed war damals mit 16 Jahren aus seiner zum Sterben langweiligen Heimatstadt in Südengland abgehauen. Sein Ziel war das wilde Berlin der 2000er Jahre gewesen. 

Er erinnerte sich nicht mehr an alles aus diesen Jahren. Zu viele Raves, zu viele Drogen. Und die andere Hälfte der Zeit hatte er gearbeitet. Er hatte bei Raue im Swissôtel Berlin gelernt, dann in verschiedenen guten Restaurants gekocht, war im “Nebelhain” mit 25 Jahren Küchenchef geworden und hatte sich vor zwei Jahren selbständig gemacht. Nun war er sein eigener Chef und führte sein kleines, aber feines „Tannendunkel“-Restaurant in Berlin-Mitte. Reeds Spezialität war moderne, altdeutsche Küche. Das Geschäft lief einfach großartig. Nebenbei – als hätte er überhaupt noch so etwas wie Freizeit – bot er High-End-Catering für V.I.P.s an, richtig reiche Leute, für die Geld keine Rolle spielte.  

Für solch einen Auftrag kaufte er jetzt ein. An Bord eines Privatjets sollte Reed ein Menu für sieben Personen zubereiten. Für diese Nebenjobs, die er sich unverschämt gut bezahlen ließ, kaufte er stets selbst ein. Im Restaurant hatte er mittlerweile einen ausgezeichneten Sous-Chef dafür.  

„Morgen, Joseph!“, begrüßte er seinen beleibten ungarischen Fischhändler, der in einer blutigen Schürze an einem ebenso blutigen Tisch Fische ausnahm.  

Joseph grunzte nur und hieb einem riesigen Wolfsbarsch mit einem Schlag seines Küchenbeils den Kopf ab. 

„Ich brauche Forellen, vier schöne Exemplare.“ 

„Hm.” 

 

Zwanzig Minuten später packte Reed zwei große Kühlkisten in den geräumigen Kofferraum seines Land Rovers. In der einen war der Fisch, ein Lammrücken und eine Schweineschulter, in der anderen das Gemüse und die exotischeren Zutaten, die er tatsächlich allesamt bei Spezialitätenhändler Neumann bekommen hatte.  

Reed fuhr vom Großmarktgelände und gab wieder richtig Gas. Keine zehn Minuten später hatte er die Sicherheitskontrolle am Tor des Flughafens Tegel hinter sich gebracht und fuhr zum Terminal für Privatjets.  

Die Maschine wartete bereits. Auf dem ansonsten makellos weißen Rumpf stand am hinteren Ende nur die Typenbezeichnung “ACJ319neo” und die Flugzeugkennung “D-SZ7589” auf dem Leitwerk.  

Eine Gangway stand am Eingang der Maschine und die Motoren liefen bereits, als Reed seinen Land Rover an der Seite eines nahegelegenen Hangars abstellte. Eine äußerst attraktive Flugbegleiterin in einer dunkelblauen Uniform wartete am Fuß der Gangway und lächelte Reed freundlich an, als er mit beiden Kühlkisten auf dem Arm auf sie zu kam. 

„Mr. Reed?“ 

„Ja, entschuldigen Sie bitte, dass Sie warten mussten…“ 

„Schon gut, Mr. Reed. Haben Sie alles dabei?“ 

“Ja, danke”, gab er leicht gepresst zurück. Die beiden Kisten und seine lederne Kuriertasche, in der seine Messer, sein Reise-Gewürzset und ein paar weitere Koch-Utensilien verpackt waren, hatten zusammen ein ganz schönes Gewicht. Er stieg hinter der Stewardess die Gangway hoch. 

Im Innern des Flugzeugs umfing sie eine geradezu sinnliche Stille. Die Motoren waren hier nicht mehr zu hören. Die Einrichtung des für eine Privatmaschine riesigen Flugzeugs war äußerst exklusiv und teuer. Reed war bereits mehrfach in Privatjets geflogen, aber das hier war ein besonders schönes, großes und sicher sehr kostspieliges Exemplar.  

„Mr. Reed? Kommen Sie?“ Die Stimme der Flugbegleiterin riss ihn aus der Betrachtung der Inneneinrichtung. Sie sah ihn an und nun lag erstmals leichte Ungeduld in ihrem sonst sehr freundlichen Blick.  

„Ja, okay.“ Er folgte der jungen Frau durch die geräumige und luxuriöse Hauptkabine in den hinteren Teil des Rumpfs 

Reed schob sich mit den Kisten durch eine Tür und gelangte in einen schmalen Flur, von dem links und rechts je zwei Türen abgingen. Der Boden war mit dem gleichen dicken weißen Teppich ausgelegt, wie in der Passagierkabine. Die Wände waren auch hier mit dunklem Holz vertäfelt.  

Die Stewardess öffnete die vordere Tür auf der linken Seite des Gangs und trat zur Seite. Reed quetschte sich mit seinen Kühlkisten hindurch und fand sich in einer winzigen, aber professionell ausgestatteten Küche wieder, die sogar ein Fenster nach draußen hatte. Er sah einen vierflammigen Elektroherd, einen elektrischen Backofen, einen Kühlschrank, eine Mikrowelle, eine Spüle, Schränke und eine etwa einmal einen Meter große Arbeitsfläche. Alles war aus glänzendem Edelstahl. So eine Ausstattung hatte er in einem Flugzeug noch nie gesehen. Hier würde er tatsächlich arbeiten können, auch wenn es verdammt eng und heiß werden würde.  

„Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?“, fragte die schöne Flugbegleiterin.  

„Ja, vielen Dank. Das ist eine sehr gute Ausstattung für einen Jet.“ Reed begann seine Tasche auszupacken und holte seine Schürze heraus. „Ich habe die Fluggäste noch nicht gesehen…?“ 

Die schwarzhaarige Frau lächelte. Reed fiel auf, wie blass ihr schönes Gesicht im Kontrast zu ihren blutrot geschminkten Lippen wirkte. Doch es war keine kränkliche, sondern eine vornehm wirkende Blässe. Die Haut ihres Gesichts, ihres Halses und, wie er bereits bemerkt hatte, ihrer Beine, war hell und makellos wie teures Porzellan. Ihre Augen waren schwarz wie Tinte und hatte damit genau die gleiche Farbe, wie ihr langes Haar, das zu einem eleganten Zopf gebunden war, der ihr weit hinab auf den Rücken fiel.  

„Die Herren werden später dazu steigen, Mr. Reed.“ 

Wir machen noch eine Zwischenlandung?“ 

„Ja, in der Tat. Wir werden allerdings wie vereinbart um 14:00 Uhr wieder hier in Tegel landen.“ 

„Okay, Frau…?“ 

Sie lächelte bezaubernd. 

„Mein Name ist Aperlaaq, Mr. Reed.“ 

Der Name hörte sich für Reeds Ohren ausländisch an. Dänisch vielleicht, oder isländisch. Die junge Frau hatte jedoch keinen hörbaren Akzent. Ihm selbst hörte man auch nach 16 Jahren noch immer seine britische Herkunft an.  

„Gibt es noch Fragen zu der speziellen Klausel Ihres Vertrags?“, fragte die junge Frau geschäftsmäßig.  

Reed hatte sich verpflichtet, die Küche während des gesamten Flugs nicht zu verlassen. Eine merkwürdige Einschränkung. Sonst brannten seine reichen Auftraggeber immer darauf, mit ihm zu reden. Viele hielten sich selbst für verkannte Sterneköche und quetschten ihn geradezu aus mit Fragen nach Rezepten und Zubereitungsarten.  

„Nein, bei mir ist alles klar.” 

 

Die Maschine hob keine zwei Minuten später ab. Reed saß angeschnallt auf einem winzigen, ausklappbaren Stuhl in der Küche, bis das “Bitte-Anschnallen”-Zeichen verlosch. Dann machte er sich ans Werk. In den nächsten zwei Stunden ging Reed völlig in seiner Arbeit auf. Er liebte das Kochen, alles daran. Er schnitt das Gemüse, filetierte die Forellen, briet das Schwein und das Lamm an, dämpfte und grillte, alles in der winzigen Küche des Flugzeugs, das währenddessen ruhig durch die Luft glitt.  

Durch das winzige Fenster der Küche konnte Reed, wenn er überhaupt einmal aufsah, die Oberseite von Wolken und dazwischen bewaldete Flächen sehen. 

Irgendwann leuchtete das „Bitte-Anschnallen“-Zeichen wieder auf, aber Reed ignorierte es und die Flugbegleiterin, Frau Aperlaaq, erschien auch nicht, um zu überprüfen, ob er die Anweisung befolgte. Er hatte drei blubbernde Töpfe auf dem Herd und einen knusprig-braunen Schweinebraten im Backofen und keine Zeit, sich anzuschnallen. So stand Reed am Herd, während der Jet butterweich auf einer schattigen Landebahn aufsetzte. Eine dunkelgrüne Wand zischte am Fenster vorbei, bis das Flugzeug soweit abgebremst hatte, dass er einzelne Tannen unterscheiden konnte. Das Grün war so dunkel, dass es beinahe schwarz wirkte. 

Auf seiner Seite des Flugzeuges konnte Reed nur Bäume sehen, daher ging er davon aus, dass sie auf einem dieser kleinen, überflüssigen Provinzflughäfen gelandet sein mussten und der wahrscheinlich völlig überdimensionierte Terminal auf der anderen Seite der Maschine lag 

Reed hatte keine Ahnung, wo sie waren, aber es war ihm auch egal. Er wandte sich vom Fenster ab und widmete sich wieder der Jus, die er zur Schweineschulter servieren wollte. Es wurde Zeit, dass die Gäste eintrafen, denn das Essen war so gut wie fertig. 

Als hätten sie seinen Gedanken gehört, betraten anscheinend mehrere Männer die Kabine. Reed hörte ihre tiefen Stimmen, mit denen sie sich lautstark und gutgelaunt unterhielten. Wer diese Leute waren, wusste er nicht. Vielleicht Manager eines mittelständischen Unternehmens. Vielleicht irgendwelche Mafiosi. Es war ihm egal. Seine V.I.P.-Termine vereinbarte eine hochklassige Event-Agentur in Prenzlauer Berg für ihn, daher erfuhr er nur etwas über seine Kunden, wenn er danach fragte. Und manchmal nicht einmal dann.  

Reed verstand nicht, was die Männer sagten. Die Sprache klang für ihn erst wie Deutsch, aber er verstand trotzdem kein Wort. Vielleicht sprachen sie Tschechisch? Nach zwei Stunden Flugzeit von Berlin aus konnten sie ebenso gut in Tschechien sein.  

Frau Aperlaaq öffnete die Tür zur Küche und die tiefen Stimmen wurden deutlicher hörbar. Nein, das war tatsächlich kein Deutsch, stellte Reed fest. Unvermittelt stimmten die Männer in der Kabine ein Lied an. Sie sangen tief, volltönend und mehrstimmig, wie ausgebildete Opernsänger. Es hörte sich wundervoll an und Reed hätte ihnen gern länger zugehört, doch die Stewardess kam zu ihm in die ohnehin schon zu kleine Küche und schloss die Tür von innen. Damit war sie ihm verdammt nah und Reed bemerkte ein weiteres Mal, wie attraktiv, ja, wie schön diese junge Frau war. Er fand sich selbst nicht hässlich und er hatte viele gutaussehende Frauen kennengelernt, doch diese Flugbegleiterin spielte in einer ganz eigenen Liga.  

„Wir starten jetzt, Mr. Reed. Sobald wir die Reiseflughöhe erreicht haben, würden die Herren gern das Mahl beginnen.“ 

„Ich bin bereit.“ 

„Sehr gut!“ Frau Aperlaaq lächelte ihn strahlend an. Ihre schwarzen Augen wirkten unergründlich tief. „Bitte denken Sie daran, dass Sie die Küche nicht verlassen dürfen, Mr. Reed.“ 

„Werfen Sie mich sonst aus dem Flugzeug, Frau Aperlaaq?“ Er grinste sein verwegenes ‘Piratengrinsen’, so hatte es eine seiner Freundinnen einmal genannt. Es verfehlte nur ganz selten den Eindruck, den er auf schöne Frauen machen wollte. Bei der Stewardess jedoch versagte es anscheinend völlig.  

“Wir könnten Sie niemals wieder nach Berlin zurückkehren lassen“, sagte sie freundlich, aber distanziert, als würde die lediglich eine allgemein bekannte Tatsache wiederholen. „Also denken Sie bitte daran.“  

Damit verließ sie die kleine Küche wieder. 

„O…kay.“ Ihre Worte wirkten auf Reed wie eine kalte Dusche und er besann sich darauf, dass er zum Arbeiten hier war. Verdammt, wahrscheinlich saß da draußen tatsächlich ein Haufen europaweit gesuchter Mafiosi, die ihn mit Schuhen aus Beton in die Moldau werfen lassen würden. Also würde er brav in der Küche bleiben und sich um seinen eigenen Kram kümmern. 

Das Flugzeug wendete auf der schattigen Landebahn, beschleunigte dann mit heulenden Motoren und hob genauso sanft und problemlos ab, wie es kurz zuvor gelandet war. Reed blickte neugierig aus dem Fenster, als sie an Höhe gewannen, aber er konnte kein Flughafengebäude erkennen. Ringsum war nur Wald zu sehen, bis sie in die Wolken eintauchten. 

Von da an hatte er keine Zeit mehr, nachzudenken, denn er musste sich ans Anrichten machen.  

Das von ihm er erdachte Menü bestand aus fünf Gängen. Es begann mit einer Terrine von Waldpilzen mit einer Einlage aus getrockneten und gerösteten Holunderbeeren. Als Entrée gab es Sushi von der Forelle, anschließend Steaks von der geschmorten Schweineschulter mit Jus und Wurzelgemüse auf einem Bett aus frittiertem Heu, schließlich scharf angebratenes Lamm in einer Steinsalzkruste mit Maronenmousse und roten Drillingen. Zum Dessert hatte Reed ein Waldbeerensorbet mit karamellisierten Haselnüssen und kandierten Brennnesselblättern vorbereitet. 

 

Eineinhalb Stunden später, als der letzte der fünf Gänge serviert war, lehnte Reed sich verschwitzt, erschöpft und hochzufrieden an die Metallwand der winzigen Küche. Er rollte die Schultern, um die Verspannung seines Nackens zu lockern.  

Der winzige Raum sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Reed würde gleich etwas aufräumen, das eigentliche Saubermachen aber den professionellen Reinigungskräften überlassen. Vielleicht würde auch die arme Stewardess hier putzen müssen. Sie erledigte anscheinend ja auch sonst alle anfallenden Aufgaben. Frau Aperlaaq war es auch gewesen, die das Essen aufgetragen hatte. Sie hatte dabeie eine Professionalität an den Tag gelegt, die Reed beeindruckt hatte.  

Er zog eine Zigarette aus der Schachtel, die in seiner Lederjacke steckte, pfiff auf sämtliche Sicherheitsvorschriften für Flugreisen und zündete sie sich mit seinem alten Zippo-Feuerzeug an. Wenn die Lüftungsanlage mit der Zubereitung eines 5-Gänge-Menus fertig geworden war, würde sie auch eine Lucky Strike aushalten können. 

Reed inhalierte den Rauch tief und versuchte, sich zu entspannen. Gutes Kochen – und er hatte heute verdammt gute Arbeit geleistet – war für ihn wie guter Sex. Und auch danach steckte er sich gern eine Kippe an 

Die Stewardess, Frau Aperlaaq, öffnete die Tür. Sie sah die Zigarette, sagte aber nichts.  

‚Apropos Sex‘, dachte Reed und grinste. Er nahm sich vor, die junge Frau später noch auf einen Drink einzuladen 

Lächelnd sagte sie: „Die Herren waren begeistert von Ihrem Menu, Mr. Reed. Sie baten mich, Ihnen ihre Hochachtung auszusprechen.“ 

„Vielen Dank. Sagen Sie den Herren doch bitte, dass ich mich geehrt fühle.  

„Und sie baten mich, Ihnen dies hier als Zeichen ihrer besonderen Anerkennung zu überreichen.“ 

Reed steckte die Zigarette in den Mundwinkel und nahm ein kleines, samtschwarzes Schmuckkästchen aus den zarten, weißen Fingern der Stewardess entgegen. Es war schwer und darin lag, als er es aufklappte, ein beeindruckend großer, grüner Edelstein. Kein Schmuckstück, einfach nur ein Stein von der Größe eines Hühnereis. 

„Das… ist das…?“ Reed starrte die Stewardess sprachlos an. 

„Das ist ein Smaragd“, sagte Frau Aperlaaq sachlich.  

Der Smaragd war wundervoll geschliffen. Er glitzerte im Licht, als Reed die Hand mit dem Kästchen bewegte. 

„Ist der echt?“, hörte Reed sich sagen. 

Die junge Frau lächelte nur. 

„Nun… Ich… ich weiß nicht, ob ich das als Bezahlung akzeptieren kann…“ 

Die junge, wunderschöne Stewardess unterbrach ihn, indem sie ihm die Hand auf den bloßen Unterarm legte. Ihre Finger fühlten sich kalt an auf seiner erhitzten Haut.  

Das ist nur eine Anerkennung, Mr. Reed. Ihr Honorar wurde bereits auf Ihr Konto überwiesen.“ 

„Oh, okay. Dann… dann richten Sie den Herren bitte meinen ergebensten Dank aus.“ 

Das tue ich sehr gern, Mr. Reed.“ Sie nahm ihre Hand von seinem Arm und wandte sich in der engen Küche um. „Wir landen in etwa 15 Minuten in Tegel. Bleiben Sie bitte in der Küche, bis ich Ihnen Bescheid gebe.“ 

„Okay…”, er zögerte kurz “Frau Aperlaaq?“ 

„Ja?“ Sie wandte sich noch einmal zu ihm um. Ihr bezauberndes Lächeln raubte ihm beinahe den Atem. 

„Haben Hätten… Dürfte ich Sie heute Abend zu einem Drink einladen? Nach der Arbeit meine ich.“ Reed fühlte sich in ihrer Gegenwart mit einem Mal so gehemmt wie ein Schuljunge und stammelte auch so ähnlich herum. 

Die Stewardess sah ihn einen Moment lang an. In ihren Augen meinte Reed nacheinander Interesse, Traurigkeit und dann, ja, Furcht zu erkennen. „Nett, dass Sie fragen, Mr. Reed”, sagte sie schließlich leise, “aber das geht leider nicht. Ich bedauere.“ 

Er sah, dass sie es ernst meinte, gab aber noch nicht auf. 

„Nun, dann vielleicht ein andermal…?“ 

Die Flugbegleiterin schüttelte nun so nachdrücklich den Kopf, dass es beinahe beleidigend wirkte.  

“Nein, es geht nicht. Bedaure”, stieß sie schroff hervor und verschwand so schnell aus der kleinen Küche, dass es wie eine Flucht wirkte. 

Reed starrte die Tür einen Moment lang verblüfft an, dann grinste er wieder. Eine so klare Abfuhr hatte er lange nicht mehr erlebt. Schließlich begann er, seine Messer zu säubern und die Gewürze zusammenzupacken. Dabei summte er vor sich hin und merkte erst nach einer Weile, dass die unbekannten Männer in der Passagierkabine wieder zu singen begonnen hatten und er die eingängige Melodie ihres Liedes mitsummte.  

Wunderschön klangen die volltönenden Stimmen seiner Auftraggeber durch den Jet, wanden sich vielstimmig umeinander, umkreisten sich, trennten sich wieder, nur um dann wieder zu einem vollkommenen Ganzen zusammen zu fließen.  

Mit verzückter Miene und offenem Mund lauschte Reed dem Lied. Manchmal dachte er, dass er die gesungenen Worte beinahe verstand, dann wieder meinte er sogar, das Lied zu kennen. Die Melodie berührte etwas tief in seiner Seele und Erinnerungen an seine Kindheit stiegen in ihm auf. 

Reed dachte an seine Mutter. Das war etwas, das er für lange Zeit vermieden hatte. Er dachte an seinen Vater und an das kleine, alte Haus in der Chesterham Road, in dem er aufgewachsen war, im ländlichen England, am Rande des Nottingham-Forrest. Wie hatte er als Kind den Wald geliebt. Stundelang war er allein durch das schattige Dunkel gewandert und hatte sich an der Stille erfreut und an dem erhebenden Gefühl, vollkommen allein zu sein. 

Das Lied der Männer in der Flugzeugkabine schien gar nicht enden zu wollen. Ein Vers gebar nahtlos den nächsten und die herrlichen Männerstimmen schienen den ganzen Aluminiumrumpf der Maschine in Vibrationen zu versetzen, die Reed von den Fußsohlen bis zu seinen Haarspitzen durch seinen Körper schwingen spürte.  

Er merkte plötzlich, dass er nicht mehr seine Messer polierte, sondern den riesigen Smaragd anstarrte. Aus dem schwarzen Samt des nun wundersamerweise wieder aufgeklappten Schmuckkästchens heraus blickte der Stein ihn wie das Auge eines Waldelfen an.  

Reed blinzelte verwirrt. Wie kam er nun gerade auf Waldelfen? Wenn es etwas gab, mit dem er überhaupt nichts anfangen konnte, dann waren es Fantasy-Geschichten. Er hatte ‚Herr der Ringe‘ nie gesehen. Das war einfach nicht seins. Und nun dachte er an Waldelfen? Reed grinste in sich hinein. Das Grinsen gefror auf seinem Gesicht, als er merkte, dass er auf einmal die kleine, stählerne Klinke der Küchentür in der Hand hielt. Wann war er die zwei Schritt bis hierher gegangen? Und warum 

Reed war klar, dass er die Küche nicht verlassen durfte. Wenn er gegen diese wichtige Bedingung seines Vertrags verstieß, würde er gewaltigen Ärger bekommen. Mindestens würde er sein Honorar verlieren, vielleicht würden sie ihn sogar auf Schadensersatz verklagen. Verdammt, mit den richtigen Anwälten könnten diese Männer, die jetzt gerade so wundervoll sangen, ihm das Leben zur Hölle machen. Und noch während er das alles dachte, beobachtete Reed sich dabei, wie er die Klinke hinunter drückte und die Tür einen Spalt breit öffnete.   

Der siebenstimmige Gesang wurde doppelt, dreimal, viermal so laut wie zuvor und erreichte eine geradezu berauschende Intensität. Reed merkte überrascht, dass er mitsang, leise und mehr schlecht als recht, doch er sang voller Inbrunst die Worte und Verse, deren Sinn er nicht verstand und die er eigentlich auch gar nicht kennen konnte. Sein Herz wollte schier zerspringen vor Erregung und Tränen der Freude rannen über seine stoppeligen Wangen und tropften auf sein verschwitztes T-Shirt.  

Leise, vorsichtig – nicht aus Angst vor Entdeckung, denn daran dachte er überhaupt nicht mehr, sondern um die herrlichen Sänger keinesfalls zu stören – schob er sich aus der schmalen Türöffnung hinaus in den Gang im hinteren Teil des Flugzeugs. Reed blickte auf den Rücken der Flugbegleiterin, die weniger als zwei Meter von ihm entfernt in einer Art von Habacht-Haltung in der offenen Tür zum Passagierraum stand. Die junge Frau schien der Musik ebenso verzückt zu lauschen, wie Reed selbst.  

Er machte einen kleinen Schritt zur Seite und konnte nun an der Stewardess vorbei in die geräumige Kabine blicken. Auf den breiten, luxuriösen Ledersitzen konnte er sieben kleine Gestalten erkennen. Zwei von ihnen hielten Pfeifen mit großen, altmodisch geschnitzten Meerschaum-Köpfen in den Händen. Alle hatten einen ebenso altertümlich wirkenden Steinkrug vor sich auf den schmalen Tischchen stehen.  

Die Männer sangen inbrünstig, mit geschlossenen Augen. Reed, der einen Blick für solche Dinge hatte, stellte fest, dass alle sieben edle, englische Anzüge aus erdfarbenen Stoffen und teuer aussehende, schwarze Lederschuhe trugen, dazu aufwändig bestickte Seidenkrawatten, die mit edelsteinbesetzten Nadeln festgesteckt waren. Die Steine auf den Krawattennadeln harmonierten mit denen auf den Manschettenknöpfen. Die Männer trugen allesamt lange graue Bärte, wie sie in der Hipster-Szene geradein waren, einer üppiger und gepflegter als der andere.  

Reed blinzelte und plötzlich wurde ihm eiskalt, als er weitere Einzelheiten bemerkte. Aus den grauen Bärten stachen bei allen sieben Männern große, knollige Nasen hervor, die sich wie Felszungen aus einem Winterwald erhoben. Große, grob geschnittene Ohren, geschmückt mit goldenen Ringen, wie sie in früheren Zeiten vielleicht Piraten oder Seeräuber getragen hätten, umrahmten die ausdrucksstarken, alten Gesichter. Und die Männer waren klein; nicht klein im Sinne von zierlich, sondern eher kompakt, komprimiert, wie ein Stück Kohle, das gewaltiger Druck in einen Diamanten verwandelt hat.  

Keiner der sieben Männer hätte ihm im Stehen auch nur bis zum Brustbein gereicht, schätzte Reed. Gleichzeitig war er sich ebenso sicher, dass jeder einzelne von ihnen ihn mit den Händen in der Mitte hätte durchbrechen können. Diese kleinen Männer sahen unglaublich, ja, übermenschlich stark aus, obwohl sie gleichzeitig so uralt wirkten.  

Reed spürte, dass er am ganzen Körper eine Gänsehaut bekam, als in seinem Kopf ein Gedanke Gestalt annahm. Er sah auf den großen Smaragd hinab, der kühl und leuchtend grün in seiner Hand lag. Wann er den Edelstein aus dem Schmuckkästchen genommen hatte, wusste er nicht mehr. Wo hatte diese Leute solch ein einzigartiges Juwel her? Konnte es sein, dass sie es selbst ausgegraben hatten, in einem finsteren, unendlich tiefen Schacht, tief unter den Bergen? Reed hob den Blick wieder und starrte auf die kräftigen, stahlhart wirkenden Hände der Männer und sah beinahe vor sich, wie sich diese kurzen, dicken Finger um die hölzernen Stiele von Hacken und Hämmern legten und… 

Unvermittelt brach der wundervolle Gesang mitten im Vers ab und in der beinahe schmerzhaften Stille, die nun eintrat, starrten acht Augenpaare Reed an. Die sieben Männer ließen ihre uralte, weisen Blicke ruhig auf ihm ruhen, ohne Zorn, ohne Überraschung und ohne jeden Vorwurf. Doch schöne Stewardess sah ihn fast verzweifelt an.  

„Sie sollten doch in der Küche bleiben, Mr. Reed!“ In ihren nachtschwarzen Augen standen Tränen, von denen eine über ihre porzellanweiße Wange lief und im Winkel ihrer blutroten Lippen hängen blieb. „Ich hatte Sie doch gewarnt!“ 

Reed sah sie nur an und ihre Verzweiflung nährte eine schreckliche Furcht in ihm. Was hatte er nur getan? 

Der ihm am nächsten sitzenden Mann erhob sich langsam. Er reichte Reed tatsächlich kaum bis zur Brust. Mit tiefer, brummender Stimme sagte er zu der Flugbegleiterin: 

Sneohwitta!” Dann ermahnte er sie, so schien es Reed zumindest, mit einigen Worten dieser ihm unbekannten Sprache, die er zuvor schon gehört hatte. 

Die blasse, wunderschöne Flugbegleiterin warf Reed noch einen verzweifelten Blick zu, dann knickste sie auf sehr altmodische Weise ergeben vor den sieben Männern und verschwand hinter einer der Türen im hinteren Teil des Flugzeugs.  

Die anderen sechs Männer erhoben sich nun ebenfalls. Kurz und stämmig standen sie vor Reed und strahlten eine unfassbare Kraft und Würde aus. er blickte in ihre uralten, steingrauen Augen und wusste mit einem Mal ohne jeden Zweifel, wer sie waren und was sie waren, diese sieben kleinen Männer, diese… Zwerge. Halb betäubt vor Angst und halb erstarrt vor Ehrfurcht sank er auf ein Knie und wieder liefen ihm Tränen über das Gesicht, ohne dass es ihm bewusst war. 

„Ich… ich…“, stammelte Reed heiser, ohne zu wissen, was er sagen wollte und verstummte, als der Alte, der ihm am nächsten war, ihm eine schwielige Hand auf die Schulter legte. Die Finger fühlten sich durch den Stoff seines Ramones-T-Shirts hindurch an, als wären sie aus Stein. 

„Deine Augen sollten dies hier nicht sehen, Koch.” Er deutete auf sich und die anderen Zwerge.  

Erst mit Verspätung fiel Reed auf, dass der Zwerg nun akzentfreies Hochdeutsch sprach. 

“Du hättest am Herd bleiben sollen. Nun musst Du Deinem früheren Leben Lebwohl sagen.” 

Er blickte Reed, der ihn mit offenem Mund anstarrte und kaum zu atmen wagte, fest in die Augen. 

„Du hast die Wahl, Reed Jackson. Du kannst uns dienen, oder Du kannst sterben. Entscheide Dich.“ 

Reed sah in den Augen des Zwergs, dass dieser ihn tatsächlich vor genau diese eine Wahl stellte. Es war klar, dass die Entscheidung zu dienen bedeutete, dass er für den Rest seines Lebens diesen Männern gehören würde. Wie die junge Frau, wie Sneohwitta 

„Ich… ich will dienen“, flüsterte Reed schließlich. Er neigte den Kopf. 

„Gut.“ 

Mehr sagte der Zwerg nicht. Er wandte sich um, und rief  mit dröhnend lauter Stimme einen unverständlichen Befehl nach vorn in Richtung Cockpit.  

Reed spürte, wie sich die Maschine in eine sanfte Kurve legte. Er dachte an seinen Land Rover, der noch in Tegel stehen musste. An sein Restaurant, an die vielen Angestellten, die vergebens auf ihn warten würden, an sein Loft in Charlottenburg, das er nie wiedersehen würde. Dann aber begannen die sieben Zwerge wieder zu singen und er vergaß, wo er herkam und was er getan hatte und hörte ihnen zu und lächelte. 

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