Harebat

cyclops

Prinzessin Moria setzte sich auf den reich verzierten, herrschaftlichen Stuhl zur Rechten des leeren Königsthrons, während Ihr Verlobter, Regent Grokurrl, auf einem ähnlich aussehenden, aber um einiges größeren Stuhl auf der linken Seite Platz nahm. Das hölzerne, mit Goldeinlagen und Schnitzereien verzierte Sitzmöbel knirschte bedenklich unter Grokurrls beachtlichem Gewicht 

Die sechzehn Palastwachen, die zu beiden Seiten des Thronsaals zwischen den baumdicken, weißen Marmorsäulen standen, nahmen Haltung an. Der Haushofmeister, ein alter, weißhaariger Adeliger, der schon unter dem Morias Großvater dem Reich treu gedient hatte, klopfte mit dem goldenen Zeremonienstab einmal auf den Marmorboden. Der helle Laut hallte durch den großen Raum und der Alte verkündete mit lauter, aber etwas krächzender Stimme: 

„Die ehrenwerte Hoheit, Königin Harebat.“ 

Grokurrl rutschte unruhig hin und her, was seinem hölzernen Stuhl ein vernehmbares Ächzen entlockte. 

Moria rang besorgt ihre Hände und warf ihrem Verlobten einen verunsicherten Blick zu, den dieser jedoch nicht zu bemerken schien.  

Im Gleichschritt kamen vier Palastwachen in voller Rüstung, mit Helmen und Hellebarden ausgestattet, durch die drei Mannshöhen große Tür des Thronsaals. In ihrer Mitte führten sie eine alte, gebeugt gehende Frau, die sich sichtlich anstrengen musste, um mit den sie um Haupteslänge überragenden Männern Schritt zu halten. Schwere, eiserne Ketten, die sie an Händen und Füßen fesselten, klirrten bei jedem Schritt. Eine lederne Maske lag um die untere Hälfte ihres Gesichts und ließ bis hinauf zu den Augen nur die große, runzelige Nase frei.  

In der Mitte des Saals blieben die Wachen stehen und ließen die Alte allein weitergehen. Die gefesselte Frau schlurfte noch ein paar Schritte und blieb dann stehen.  

Sie sah Prinzessin Moria mit hochgezogen Augenbrauen auffordernd an, während sie den Regenten Grokurrl anscheinend völlig ignorierte. Moria schluckte und spürte, wie ihr unter dem Blick der Alten das Blut in die Wangen schoss. Sie sah zu Grokurrl hinüber, der die Alte mit vor Abscheu verzerrtem Gesicht anstarrte. Schließlich nickte er. 

Der Haushofmeister trat nach vorn, sichtlich nervös, und öffnete ein schweres silbernes Vorhängeschloss, das im Nacken der Alten unter deren langen, grauen Haaren verborgen gewesen war. Dann nahm er ihr die lederne Maske ab.  

Die grauhaarige Frau öffnete und schloss den Mund, bewegte den Kiefer und verzog das Gesicht, während sie sich mit den gefesselten Händen die Wangen rieb.  

Der Haushofmeister zog sich schnell wieder zurück, während die Palastwachen nervös ihre Hellebarden und Schwertgriffe befingerten und die Alte nicht für einem Moment aus den Augen ließen.  

Prinzessin Moria räusperte sich und sagte: 

„Nun, Mutter, ich hoffe,…“ Sie unterbrach sich nervös, als die Alte eine Hand hob.  

„Wasser“, bat sie krächzend und lächelte dann leicht. „Bitte, mein Kind.“ 

Moria sah zu Grokurrl hinüber, der leicht den Kopf neigte.  

Ein Diener brachte der alten Königin einen silbernen Becher mit Wasser, den sie langsam austrank. Sie gab den Becher zurück, den der Diener nur widerwillig nahm, als könne das silberne Gefäß ihn wie ein kleines, giftige Tier jederzeit anfallen. Schnell trug er es hinaus. 

„Danke, Tochter“, sagte die alte Königin schließlich 

Die Prinzessin erschauderte unter dem eiskalten Blick der Frau, von der sie einst zur Welt gebracht worden war 

„Nun, Mutter, ich hoffe, Euch ist klar, warum wir Euch aus euren Gemächern holen ließen.“ 

„Es sind keine Gemächer, mein Kind. Nenne ein Verlies ruhig ein Verlies, wenn es eines ist.” 

Die Prinzessin sah kurz zu ihrem Verlobten und fragte dann: 

„Und, habt Ihr es Euch überlegt? Werdet ihr…?“ 

„Nein“, unterbrach die alte Frau sie kalt. „Wie könnte ich, Moria?“ Sie starrte ihrer Tochter in die Augen, bis die jüngere zu Boden sah. „Niemals werde ich meinen Anspruch auf den Thron an Dich abtreten, nicht solange ich lebe.“ Sie deutete mit einer verächtlichen Kopfbewegung auf Grokurrl, ohne ihn dabei anzusehen. „Niemals darf ein dreckiger Zyklop unser Land regieren, Moria.“ 

Grokurrl knurrte und ballte die riesigen Fäuste, mit denen der gut drei Meter große Riese junge Bäume aus dem Boden reißen konnte. Sein einzelnes Auge, das mitten in seinem breiten, grobgeschnittenen Gesicht saß,  wurde schmal, als er die Alte voller Hass betrachtete.  

„Aber Mutter, bitte! Ich liebe ihn! Und er liebt mich! Grokurrl hat…“ 

Wieder fiel die Mutter ihrer Tochter ins Wort.  

„Er hat Dich verzaubert, mein Kind!“ Die harten Augen der Alten wurden mit einem Mal weich und auch ihre Stimme klang nun eher flehend als anklagend. „Spürst Du es denn nicht, meine liebe, kleine Moria? Fühlst Du nicht die Wirkung des starken Zaubers, der über Dich gelegt wurde, damit Du diesem… Scheusal verfällst?“ Königin Harebat deutete mit den gefesselten Händen auf Grokurrl. „Ich kann die unsichtbaren Fäden, mit denen er Dich kontrolliert, sehen, meine Tochter. Befreie Dich von ihm und…“ 

GENUG!“, brüllte da der Zyklop mit Donnerstimme und stapfte mit einem seiner riesigen Füße auf, dass der Boden bebte. „Du bist es, die meine Liebste mit Worten verhext, du böse Alte!“ Grokurrls Stimme klang tief und dumpf und seine Worte rumpelten aus seiner breiten Brust, als würden zwei Männer zugleich auf ein leeres Bierfass einschlagen. „Aber damit ist nun Schluss. Wenn Du jetzt nicht die Krone Deiner Tochter übergibst, dann lasse ich Dich noch in dieser Stunde ins Labyrinth werfen.“ 

Das Labyrinth lag viele hundert Schritte unter dem alten Schloss. Dorthin wurden diejenigen gebracht, die in den Augen des Königs ihr Leben verwirkt hatten. Noch niemals war jemand dem Labyrinth wieder entkommen. Es ging die Legende, dass die, die nicht verdursteten oder verhungerten, uralten Kreaturen zum Opfer fielen, die schon seit Anbeginn der Zeiten unter dem Berg hausten, auf dem das Schloss erbaut worden war.  

Königin Harebat würdigte den Zyklopen weiterhin keinen Blickes. Stattdessen sprach sie zu ihrer Tochter, die nervös und unglücklich aussah.  

„Du weißt, dass Du mich nicht töten lassen darfst, Moria, ohne den Anspruch auf die Krone zu verlieren. Du kennst den Fluch, der auf Königsmördern liegt.“ 

„Du bist keine Königin, nur die Hexenhure, die Thraydal sich zur Frau genommen hat“, sagte Grokurrl mit ätzendem Spott. „Du hast ihn verhext, um ihn zu bekommen. Allein dafür hast Du den Tod hundertfach verdient.“ 

Nun wandte die Alte langsam ihren Kopf und blickte den Zyklopen erstmals an. Ihre blauen Augen waren wie Eiskristalle in ihrem verwitterten Gesicht. 

Thraydal hat mich geliebt, Du Ausgeburt der Hölle. Davon verstehst Du nichts.“ 

Wieder knurrte der Zyklop, schwieg aber.  

Bitte, Mutter!“ Moria erhob sich von ihrem reich verzierten Stuhl und stieg mit zwei grazilen Schritten von der Empore herab. 

Harebat sah mit einem leichten Stich im Herzen, wie schön ihre Tochter immer noch war. Moria zählte nun sechsundzwanzig Jahre und stand bereits seit über einem Jahr unter dem Einfluss des verschlagenen Monstrums. Dennoch war sie immer noch strahlend schön, mit langen Beinen, blonden Haaren und der schlanken Figur eines jungen Mädchens.  

Moria näherte sich ihrer Mutter, bis die beiden Frauen, die alte und die junge, keine zwei Schritte mehr trennten.  

„Bitte, gib nach, Mutter“, flehte die Prinzessin leise und wagte es sogar, ihre Hand auf die kalten, rissigen Hände ihrer Mutter zu legen. „Bitte, ich flehe Dich an! Wenn…“, sie zögerte, „Wenn schon nicht meinetwegen, so tue es für Dein… Enkelkind.“ 

Königin Harebat blinzelte, schluckte dann trocken und fragte leise und mit vor Entsetzen bebender Stimme.  

„Du… du erwartest ein… Kind? Von… von ihm?“ 

Moria lächelte und strich sich über den Bauch.  

„Ja, Mutter. Das Königreich braucht einen Erben. Grokurrls Sohn. Unseren Sohn.“ 

Die alte Königin schloss die Augen. Ihr runzeliges Kinn zitterte. Eine einzelne Träne quoll unter ihren geschlossenen Augenlidern hervor und rann über ihre faltige Wange.  

„Dann ist es entschieden“, flüsterte sie, wie zu sich selbst.  

Wochenlang hatte die gefangen gehaltene Königin über Palastbedienstete, die dem verstorbenen König Thraydal gegenüber loyal geblieben waren, im Geheimen mit ihrem Neffen, Rehlofar, König von Anvargien, korrespondiert, um diesen dazu zu bewegen, das Land Grimmalden von der Herrschaft des tyrannischen Zyklopen zu befreien. Rehlofar hatte Hilfe versprochen, doch Harebat hatte ihm dafür die Krone Grimmaldens und die Hand ihrer einzigen Tochter anbieten müssen.  

Die alte Königin hatte nur schweren Herzens eingewilligt. Aber besser, das Reich wurde von einem ehrgeizigen Verwandten, als von einem einäugigen Monster beherrscht. König Rehlofar sammelte gerade sein Heer und wollte noch vor dem Ende des Sommers das Schloss von Grimmalden einnehmen und den Zyklopen töten. Harebat hatte ihm dazu eine Phiole mit einem ganz bestimmten Gift schicken lassen, mit dem Rehlofar sein Schwert bestreichen sollte. Nur eine einzige kleine Wunde von dieser Waffe und Grokurrl wäre des sicheren Todes gewesen. 

Doch nun, wenn Moria tatsächlich ein Kind von diesem Monster erwartete, war alles zu spät. Grokurrl hatte Moria tatsächlich geschändet. Und nun, da Harebats Blick wieder klar wurde, sah sie die Zeichen in Morias Aura. Sie waren eigentlich nicht zu übersehen: Ihre Tochter erwartete tatsächlich ein Kind.  

Rehlofar konnte Moria nun nicht mehr zur Frau nehmen und somit König von Grimmalden werden, also würde er sich von ihnen abwenden. Hilfe war von ihm nicht mehr zu erwarten. Moria würde die Geburt des Monsters in ihrem Bauch nicht überleben und das Reich Grimmalden würde bis in alle Ewigkeit von einer Sippe von Zyklopen beherrscht werden.  

Es war alles verloren.  

„So soll es also sein“, flüsterte die Alte und senkte die faltigen Lider. Sie holte tief Luft, sammelte sich einen Moment und öffnete die Augen wieder 

Moria stieß einen entsetzen Schrei aus und wich so schnell vor ihrer Mutter zurück, dass sie über ihre Röcke stolperte und auf den Hintern fiel. 

„Nein! Oh, nein! Mutter, nicht!“, keuchte die junge Frau und der Zyklop brüllte auf, als er sah, dass Harebats Augen sich in weißglühende Kohlen verwandelt hatten, deren Licht den zwielichtigen Saal erhellten, wo immer die Königin ihren Blick hinwandte.  

Grokurrl sprang überraschend gewandt auf die Füße und stülpte sich mit der Linken seinen riesigen Kriegshelm auf den Kopf, während er mit der Rechten die doppelt mannslange Kriegskeule aufnahm, die er an den Thron gelehnt hatte.  

„Bindet Sie!”, brüllte der Zyklop mit Donnerstimme. “Tötet Sie, wenn es sein muss! Aber lasst sie nicht sprechen!“ 

Die Palastwachen zögerten nur einen Atemzug lang und stürzten dann mit gesenkten Hellebarden nach vorn.  

Groh’targah“, flüsterte die alte Königin und ließ die magischen Kräfte durch ihren mageren Körper fließen. Die Zeit selbst schien sich zu verlangsamen. Alle, von den Wachen über die Prinzessin Moria bis hin zu dem drei Meter großen Zyklopen, bewegten sich nur noch langsam, wie in zäher Melasse eingeschlossen.  

Königin Harebat flüsterte weitere uralte Worte, die sie vor vielen, vielen Jahren gelernt und nie vergessen hatte. Ihre Ketten fielen klirrend von ihren Händen und Füßen. Mit krummen, gichtigen Fingern zeichnete sie geschwind die geheimen Zeichen in die Luft, die leuchtend Gestalt annahmen und auf die Palastwachen zu schossen. Die Männer wurden von den Füßen gefegt und fielen aufschreiend zu Boden. Auch der Zyklop, der seine Keule drohend erhoben hatte, wurde getroffen, taumelte jedoch nur einen Schritt zurück.  

„HEXE!“, brüllte Grokurrl voller Hass und stürzte sich erneut auf die alte Königin.  

Harebat lächelte ihn mit ihren weißglühenden Augen an, sprach einen mächtigen Zauber, legte dann den Kopf in den Nacken und würgte, einmal, zweimal, bis ein kleiner, kaum fingernagelgroßer Funke aus ihrer Kehle sprang. Der Funke verharrte, ohne zu verlöschen, über dem Gesicht der Alten in der Luft.  

„Nein!“, stieß Grokurrl hervor und blieb wie angewurzelt stehen. Sein riesiges, wildes Gesicht zeigte nun zum ersten Mal so etwas wie Angst. „Das kann nicht sein! Dieses Ding… wir haben es für alle Zeiten weggesperrt!“ 

Harebat lächelte wieder, ein mildes Lächeln, das in Verbindung mit ihren weißglühenden Augen entsetzlich aussah.  

„Du weißt nichts, Zyklop. Gar nichts.“ 

Königin Harebat hob langsam ihren rechten Zeigefinger und der Funke setzte sich darauf. Sein strahlend helles Glühen verblasst gerade so weit, dass die winzigen Umrisse eines zarten, geflügelten Mädchens zu erkennen waren.  

„Merandys“, sagte die Alte zu der kleinen Feuerfee und neigte leicht den Kopf. „Ich habe Dich Deinem Käfig entrissen und schenke Dir hiermit die Freiheit, die Dir und den Deinen zusteht.“  

Die winzige Elfe sah die Alte lange an und nickte dann langsam.  

Harebat sprach weiter:  

„Dafür erbitte ich nur einen Gefallen.“ Sie deutete mit einem Kopfnicken auf Grokurrl. „Töte den Zyklopen und alle, die für ihn kämpfen!“ 

„NEIN!“, brüllte der Grokurrl und holte mit seiner riesigen Kampfkeule aus. Doch er bewegte sich zu langsam, viel zu langsam, immer noch gehemmt von Harebats Zauber.  

Die Feuerelfe Merandys hatte daher Zeit, sich einmal andeutungsweise, von einer Königin zur anderen, zu verneigen. Dann glühte sie wieder auf, hell wie die Sonne, so dass selbst Harebat ihre Augen abwenden musste. Der strahlende Funke schoss auf den Zyklopen zu, als dieser gerade mit seiner Keule zuschlug, traf das einzelne Auge in der Mitte des grobschlächtigen Gesichts und bohrte sich wie ein glühender Pfeil durch den Kopf und trat durch die Rückseite des eisernen Helms wieder aus. Grokurrl hatte nicht einmal mehr Zeit, aufzubrüllen, bevor er tot zu Boden fiel.  

Der tödliche Funke der Feuerelfe raste im Zickzack durch den Raum und tötete in wenigen Augenblicken sämtliche Wachen und den Haushofmeister, bevor Merandys den Thronsaal verließ und in Windeseile durch das gesamte Schloss flog, um jeden zu töten, der für den Zyklopen gekämpft hatte. 

 Als Harebat sah, dass der ungleiche Kampf entschieden war, verlosch das Glühen ihrer Augen und sie sackte erschöpft in sich zusammen. Sie wusste, dass ihr Ende nahe war. Die Kräfte, mit denen sie soeben paktiert hatte, verlangten ein Opfer an Lebenskraft, dass auch eine jüngere Frau an den Rand des Todes gebracht hätte.  

Die alte Königin setzte sich auf die unterste Stufe der Empore, auf der der leere Thron ihres verstorbenen Thraydal stand. Wie hatte sie ihn geliebt! Und wie hatte er sie geliebt. Dem jungen Prinzen, der Thraydal damals war, als sie sich kennenlernten, war es egal gewesen, dass sie eine Hexe war. Auch als sie ihm gestand, dass sie um beinahe ein Jahrhundert älter war als er, hatte er nur gelacht und sie ein weiteres Mal geliebt. Und wieso auch nicht? Harebat war wunderschön gewesen, damals, und hatte trotz ihrer vielen Jahre den Körper eines jungen Mädchens gehabt.  

Thraydal hatte sie zur Frau genommen und er war König geworden. Und Harebat hatte ihm, Jahre später, eine Tochter geschenkt, ebenso schön und lebensfroh, wie sie selbst es war. Moria. Und sie waren für viele, viele Jahre glücklich gewesen, bis zu Thraydal s Tod. Ein vergifteter Pfeil hatte ihn in einer unbedeutenden Schlacht an der Ostgrenze des Reichs getroffen. Harebat hatte alles versucht, um sein Leben zu retten. In diesen Stunden, in der Tiefe der Nacht, hatte sie die alten Kräfte angerufen, doch das Gift, fremd, tückisch und tödlich, war stärker gewesen. In dieser einen Nacht war Harebat um viele Jahre gealtert, doch sie hätte diesen Preis gern gezahlt, hätte sie Thraydal nur retten können.  

In dieser Zeit der Trauer, nach Thraydal s Tod, hatte Harebat die Welt um sich herum nur wie durch einen Schleier wahrgenommen. Zur sehr hatte der Verlust ihres geliebten Mannes sie beschäftigt, als dass sie sich noch um andere Dinge gekümmert hätte. Und so war es dem Zyklopen Grokurrl irgendwie gelungen, Moria zu verzaubern. Er hatte sich und seine Kumpanen in das Schloss von Grimmalden geschlichen und nach und nach die Kontrolle über die Prinzessin und schließlich das gesamte Reich übernommen. Die immer noch trauernde Harebat wurde überraschend überwältigt, geknebelt und in den Kerker geworfen.  

Und nun war endgültig alles dahin. 

“Mutter, was hast Du getan?” Moria stand inmitten der Verwüstung und starrte Harebat an. “Du hast meinen Grokurrl getötet! Du hast sie alle getötet!” 

Die alte Königin blickte ihrer Tochter forschend ins Gesicht und las ihre Aura. Beinahe hätte sie aufgeschrien, als ihr klar wurde, dass sie, selbst in diesem Moment des Triumphs, noch gnadenloser besiegt worden war, als sie es befürchtet hatte: Der Zauber, der auf Moria lag, war durch Grokurrls Tod nicht gebrochen worden. Also war es nicht der ungeschlachte Zyklop gewesen, der die junge Frau verzaubert hatte, sondern jemand anderes. Ein noch weitaus mächtigerer, unbekannter Gegner.  

Wieder begannen Tränen über Harebats faltiges Gesicht zu laufen, als ihr klar wurde, was das zu bedeuten hatte. 

“Moria, es tut mir so leid. Vergib mir, meine Tochter.” 

“Wie könnte ich Dir vergeben?”, schrie die junge Frau. “Du hast meinen Liebsten getötet!” 

Harebat senkte den Blick und schaffte es nicht, ein Schluchzen zu unterdrücken. Sie fühlte sich so unendlich müde und so unendlich alt. 

“Oh, mein Kind! Nicht dafür erflehe ich Deine Vergebung, liebste Moria. Dieses Monster hat Dich geschändet und dafür den Tod dutzendfach verdient. Nein…”  

Harebat sah auf und blickte voller Schmerz in die blauen Augen ihrer Tochter. Blaue Augen, wie die ihren. Sie sah den unechten Schmerz darin, ausgelöst durch den starken Zauber, der weiterhin auf der jungen Frau lag. Harebat wusste, dass sie den Bann nicht würde brechen können, nicht mit den wenigen Kräften, die ihr nach dem Kampf geblieben waren. Und sie sah die Aura des ungeborenen Wesens in Morias Bauch. Es würde die Prinzessin töten, spätestens bei der Geburt. Nichts und niemand konnte ihrer Tochter dieses Schicksal jetzt noch ersparen. Und was immer schließlich aus Morias totem Leib kroch, würde die Herrschaft nicht nur über das Reich Grimmalden an sich reißen, sondern auch über die anderen Länder des Westens. Krieg und Tod lagen in der Luft.  

“Nein, ich bitte dafür um Deine Vergebung, mein geliebtes Kind.” 

Harebat schloss die Augen und hob die rechte Hand, die Finger zu Krallen gebogen und richtete sie auf ihre Tochter. Wieder rannen ihr Tränen über die Wangen, als sie daran dachte, wie Moria, noch kein Jahr alt, in ihren Armen geschlafen hatte. Wie sie gelacht, gespielt und geweint hatte, wie sie aufgewachsen war. An all das dachte die alte Zauberin, die Hexe, und weinte stumme Tränen, als sie das Zauberwort sprach und begann, der jungen Frau und dem ungeborenen, bösen Leben in deren Leib die Lebenskraft auszusaugen. 

Mutter! Nicht! Bitte!”, schrie Moria gequält auf und umklammerte mit beiden Händen ihren Leib, während sie zu Boden sank. Ihr schönes Gesicht alterte zusehends und ihre blonden Haare wurden fahl und weiß.  

Harebat schluchzte, ließ aber nicht von ihrer Tochter ab. Moria war vom Tode gezeichnet und sie, ihre Mutter, konnte nichts tun, um sie zu retten. Was sie tun konnte, war, ihrem einzigen Kind einen schnellen, gnädigen Tod schenken. Und sie konnte, sie musste die Lebenskraft ihrer Tochter und des ungeborenen Monsters in deren Leib nutzen, um weiterzuleben und denjenigen zu finden, der Moria dies angetan hatte.  

Schließlich ließ die alte Königin die Hand sinken und erhob sich von der Empore. Sie fühlte die Kraft, die ihren jetzt wieder jungen Körper durchströmte und die das Blut in ihren Adern heftig pulsieren ließ. Harebat ging zu der Prinzessin, die stöhnend auf dem Boden lag. Zärtlich bettete sie den weißhaarigen, runzeligen Kopf ihrer Tochter in ihrem Schoß und strich sanft über die faltigen Wangen.  

“Mutter…?”, flüsterte Moria schwach, mit brüchiger Stimme. 

“Ich bin hier, mein Schatz. Es ist alles gut.” Harebats Tränen fielen auf das uralte Gesicht unter ihr. “Du kannst nun schlafen, liebes Kind. Schlaf ruhig und tief. Ich liebe Dich, Moria.” 

“Und ich Dich, Mutter”, flüsterte die sterbende Frau. “Schlafen…” 

Harebat saß noch lange da, mit dem ausgezehrten, toten Körper ihrer Tochter im Arm, und trauerte, um alles, das war, und um alles, das hätte sein können.  

Schließlich, die Nacht war schon hereingebrochen, küsste Harebat das alte, friedliche Gesicht ihrer Tochter noch ein letztes Mal und erhob sich.  

Immer noch pulsierte die gestohlene Lebenskraft durch ihren nun wieder schlanken, beweglichen, jungen Körper. Sie war hungrig und durstig, aber nicht im Geringsten müde. Sie würde ein paar Sachen einpacken und dann würde sie nach Osten gehen.  

Selbst in ihrer Trauer hatte sie darauf geachtet, wann genau der Zauber, der auf Moria gelegen hatte, brach. Es war kurz vor ihrem letzten Atemzug gewesen und die dünnen, kaum wahrnehmbaren Fäden, die von der sterbenden Aura ihrer Tochter rissen, waren aus dem Osten gekommen. Harebat hatte nur eine dunkle Ahnung davon, auf wen sie dort treffen könnte. Es würde eine lange, gefahrvolle Reise werden und an deren Ende würde ein mächtiger Gegner auf sie warten.  

Doch Harebat hatte keine Angst, im Gegenteil: Sie konnte es kaum erwarten, dem unbekannten Feind entgegen zu treten, denn im allerletzten Augenblick, gerade als ihre Tochter die Schwelle des Todes überschritt, hatte Harebat ihn gespürt. 

Und er hatte Angst gehabt. Angst vor ihr und dem, was ihn erwartete, wenn sie ihn fand. 

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